Die Offenbarung des Jungen Werthers

Die Offenbarung des Jungen Werthers

[Fixing Frankenstein chapters]

[This story is a continuation of “The Picnic”.
We have translated this story into English as “The Revelation of the Young Werther”.]

Die Offenbarung des Jungen Werthers
Eine wahre, wenn auch seltsame Geschichte
— von Elizabeth Frankenstein erlebt und niedergeschrieben.

Leaving his father and brothers to guard our defenseless bodies for the outward hour our journey required (I say “outward hour” because, as Victor explained, our inner experience of time would be very different than that of our motionless and apparently desouled frames), Victor bat uns alle im Kreis sitzen und gab uns alle ein Schlückchen seines mitgebrachten Elixiers. Mit geschlossenen Augen reichten wir einander die Hände.

Bald verlor ich jegliches Bewusstsein der Außenwelt und es schien mir — und die anderen haben es auch nachher bestätigt — dass wir jetzt alle zusammen durch einen langen gewölbten Stollen gingen. Die Halle war groß und prächtig wie eine Kathedrale — aber anstatt aus Steinen oder Holzbalken waren die Wände und Deckengewölbe vollständig mit flackernden Bilder ausgebaut. Also wanderten wir durch Szene aus dem Buch, in — so es uns allen schien — chronologischer Anordnung.

Wir sahen (hörten aber nicht – der Stollen war stumm) Lotte und Werther beim ersten Treffen in ihrer Stube, ihre Geschwister herumwimmelnd; und dann Lotte und Werther im fröhlichen Einklang im Saal tanzend; aber auch dann die Verlegenheit Lottes und Werthers daraufhin folgende vorübergehenden Betrübnis. “Also da sagt sie ihm, ‘Albert ist ein braver Mensch, dem ich so gut als verlobt bin’!” rief Justine auf. “Gewiss” stimmte Vuh leise zu.

Also gingen wir weiter, während die Geschichte, die über unseren Köpfen spielte, auch weiter ging. Und so ist Albert nach Hause zurückgekommen; die drei versuchen Freunden zu sein; Werther aber bricht mehr und mehr unter dem Druck frustrierter Leidenschaft zusammen; bis er schließlich eine Stelle in Weimar akzeptiert, in der Hoffnung, dass die Distanz zum Walheim (350 KM / 200 Meilen) ihn seiner Besessenheit befreien würde. Sein Leben im Weimar, und die schöne Bekanntschaft eines schönen Frauenzimmers wird aber sehr schnell von öffentlicher Beschämung (oder vielleicht eher von seiner übertriebenen Empfindlichkeit) zerstört. Er kommt zurück nach Walheim um wieder bei Lotte zu sein, die inzwischen mit Albert verheiratet ist. Und alles verschlechtert sich immer mehr.

Ich soll erwähnen, dass alle Nebenhandlungen auch über uns schwebten; und dass auch jene Teile des Buchs die nur im Geiste Werthers existierten auch da waren: man sieht, zum Beispiel, Werther beim Schreiben, die Wörter die er da schrieb, die begleitenden Gesichtsausdrücke (in der Regel übertrieben), und manchmal auch Bilder einiger verwandter Erinnerungen.

Wir gelangten an die letzte Szene zwischen Werther und Lotte — diejenige wo er ihr seine Übersetzung des keltischen Heldengedichts Osian vorliest, darüber sie beide zugrunde gehen und in Tränen zusammenbrechen, er sie dann umarmt und küsst, sie aber ihn zurückschlägt und entflieht, erklärend, er dürfe niemals mehr zu ihr. (Am nächsten Tag — wie geplant — bringt er sich um.) Hier, als über die Decke und Wände die beide sich in Tränen verlieren, hob Victor den Arm, und wir hielten an. “Zu weit gegangen! Wir müssen ein bisschen zurück, auch wenn wir in dieser Szene ergreifen werden.” Und dann erzählte er uns sein Vorhaben.

Er stützte seinen Plan auf der Wirkung von Literatur auf dem menschlichen Verstand. Clerval und Vuh, wenn sie im Prinzip seiner Ideen zwar zwingend fanden, konnten dem Schluss nicht entkommen, dass bei dieser Stelle in der Geschichte Werther schon zu weit außer Fassung gekommen sei, um uns auf einer literarischen Kur zu verlassen. “Das mag wohl sein,” stimmte Victor zu, “also, ihr zwei bleibt neben seinem Zimmer, falls die Dichtkunst fehlschlägt.”

Mittag 22 Dezember 1772

Lee, Vuh, Victor, Clerval, Justine und ich kamen im Wetzler an. Werther war weg und wurde erst in einigen Stunden zurückkommen. Vuh und Clerval suchten Werthers Wohnung um sie zu überwachen. Bevor wir den Saal der flimmernden Buchszene verließen, hatten Victor, Vuh, Justine und ich uns Pferden vorgestellt. Justine aber hatte zu viel Eifer in ihrem Pferde zugeträumt, und der schwarze Hengst wieherte gehetzt, den Kopf (mit dem weißen Diamant unter den Augen mitten im Maulkorb) in jeglicher Richtung herumwerfend, und strampelte wild mit den Hufen, erst vorwärts dann rückwärts springend. Victor und Justine blieben also auch zurück, um ein Pferdestall zu finden. Lee und ich ritten nach Walheim mit den ausgewählten Textpassagen.

Wir wussten, dass Lotte allein von ungefähr fünf bis halb sieben bleiben wird. Die gezielte Schublade war neben einem offenen Fenster, und nach unseren Beobachtungen der Szenen, hatten wir geschätzt, dass Lees lange Arme die Schublade von draußen öffnen und hineingreifen könnten. Also mussten wir nur auf den richtigen Augenblick abwarten.

Zuerst hatten wir so ein Paar Komödie der Irrtümer. Charlotte verließ die Stube; Lee öffnete die Schublade und suchte nach Ossian; Charlotte kehrte plötzlich zurück; der lange Arm Lees zog sich zurück, ohne die Schublade schließen zu können; Lotte kratzte den Kopf und machte die Schublade zu; das alles passierte ein zweites Mal, dismal aber schaute Lotte verwirrend um und drückte mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Schublade. Die Zeit wurde knapp.

“Hebe mich ins Fenster an”, sagte ich.

“Was?”, sagte Lee.

“Jetzt!” sagte ich, indem ich die Passagen aus ihrer Hand nahm.

In einer mühelosen, fließenden Bewegung hob sie mich nach oben, durchs Fenster und auf den Stubenboden.

Glücklicherweise blieb Lotte stumm. Sie saß mir gegenüber auf dem Sofa und mit offenem Mund starrte auf mich als sei ich eigentlich unmöglich.

“Entschuldigen Sie mir bitte die Störung. Ich muss aber Ihre Hilfe bitten. Werthers Übersetzung Ossians müssen Sie mit dieser Passage ersetzen. Hier, ich mache es selbst. Ossian verstecken wir tief in diesem auf dem Tische liegenden Buch; und da, wo Ossian war, setzten wir diese ruhigeren, süßeren Worte. Für das was demnächst kommt ist Ossian eine besonders schädliche Literatur; dies ist viel mehr angebracht. Aber ich bitte Ihnen, tue als ob Sie glaubten, dass Ossian immer noch hier wäre, und fordern Sie ihn an, dir Ossian vorzulesen. Und kein Wort bitte davon, dass ich hier wäre! Ich bedauere sehr, dass wir nicht mehr geschickt hätte handeln können, aber wenn Sie sowieso natürlich agierten, und, wie gesagt, ihn Ossian zu lesen bäten, und dann nur dies fänden, was Ihnen sehr überrascht, und dann meinten, dass Sie sowie möchten, dass er Ihnen dies vorlese. Wenn Sie bitte das alles so kühn und schauspielerisch wie möglich machen können, könnten wir alle noch Erfolg haben. Ich bitte noch einmal um Verzeihung wegen der — eigentlich nicht genau planmäßigen — Störung.”

Ich ging zurück ans Fenster. Lotte sagte aber leise — ganz leise, weil ihre Stimme immer noch verschwunden war —, “Halten Sie bitte. Ich verstehe nicht.” Da wendete ich sie sehr ernst und wohlwollend an, und — mit dem sanftesten Lächeln und als mir Tränen in den Augen schwankten — antwortete ich, “Sie brauchen nicht alles zu verstehen.” Und da war sie stumm, und, ihre Augen groß und an die meinigen fixiert, nickte sie sehr klein aber sehr bedeutend und viel teilnehmend zu.

Ich kletterte in die Armen Lees und wir versteckten uns im Gebüsch als die Handlung des Buchs uns entgegenkam.

[Aus der letzten Seiten von Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des Jungen Werthers:]

Montags früh, den einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden Brief an Lotten, den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem Schreibtische gefunden und ihr überbracht hat, und den ich absatzweise hier einrücken will, so wie aus den Umständen erhellet, daß er ihn geschrieben habe.

“Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ich dir ohne romantische überspannung, gelassen, an dem Morgen des Tages, an dem ich dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses liesest, meine Beste, deckt schon das kühle Grab die erstarrten Reste des Unruhigen, Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke seines Lebens keine größere Süßigkeit weiß, als sich mit dir zu unterhalten. Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine wohltätige Nacht. Sie ist es, die meinen Entschluß befestigt, bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich mich gestern von dir riß, in der fürchterlichen Empörung meiner Sinne, wie sich alles das nach meinem Herzen drängte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein neben dir in gräßlicher Kälte mich anpackte—ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du gewährtest mir das letzte Labsal der bittersten Tränen! Tausend Anschläge, tausend Aussichten wüteten durch meine Seele, und zuletzt stand er da, fest, ganz, der letzte, einzige Gedanke: ich will sterben!—ich legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe des Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich will sterben!—es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! Warum sollte ich es verschweigen? Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft—deinen Mann zu ermorden!—dich!—mich! —so sei es denn!—wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt.—Ich war ruhig, da ich anfing, nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich wird.—”

Gegen fünf kam er nach Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er Bücher und Wäsche unten in den Koffer packen und die Kleider einnähen.

Darauf schrieb er wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.

“Du erwartest mich nicht! Du glaubst, ich würde gehorchen und erst Weihnachtsabend dich wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr. Weihnachtsabend hältst du dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest es mit deinen lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie wohl ist es mir, daß ich entschlossen bin.”

Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten Unterredung mit Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn er sich von ihr entfernen sollte.

Es war wie im Vorübergehn in Alberts Gegenwart gesagt worden, daß Werther vor Weihnachtsabend nicht wieder kommen werde, und Albert war zu einem Beamten in der Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschäfte abzutun hatte, und wo er über Nacht ausbleiben mußte.

Sie saß nun allein, keins von ihren Geschwistern war um sie, sie überließ sich ihren Gedanken, die stille über ihren Verhältnissen herumschweiften. Sie sah sich nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, daß eine wackere Frau das Glück ihres Lebens darauf gründen sollte; sie fühlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer sein würde. Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung drohte in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre sie gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten dürfen, hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder herzustellen!

Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer jeglichen etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt hätte.

Über allen diesen Betrachtungen fühlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen, daß ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu behalten, und sagte sich daneben, daß sie ihn nicht behalten könne, behalten dürfe; ihr reines, schönes, sonst so leichtes und leicht sich helfendes Gemüt empfand den Druck einer Schwermut, dem die Aussicht zum Glück verschlossen ist. Ihr Herz war gepreßt, und eine trübe Wolke lag über ihrem Auge.

So war es halb sieben geworden, als sie Werthern die Treppe heraufkommen hörte und seinen Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald erkannte. Wie schlug ihr Herz, und wir dürfen fast sagen zum erstenmal, bei seiner Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen, und als er hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von leidenschaftlicher Verwirrung entgegen: “Sie haben nicht Wort gehalten.”—”Ich habe nichts versprochen” war seine Antwort.—”So hätten Sie wenigstens meiner Bitte stattgeben sollen,” versetzte sie, “ich bat Sie um unser beider Ruhe.”

Sie wußte nicht recht, was sie sagte, ebensowenig was sie tat, als sie nach einigen Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein zu sein. Er legte einige Bücher hin, die er gebracht hatte, fragte nach andern, und sie wünschte, bald daß ihre Freundinnen kommen, bald daß sie wegbleiben möchten. Das Mädchen kam zurück und brachte die Nachricht, daß sich beide entschuldigen ließen.

Sie wollte das Mädchen mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen lassen; dann besann sie sich wieder anders. Werther ging in der Stube auf und ab, sie trat ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte nicht fließen. Sie nahm sich zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der seinen gewöhnlichen Platz auf dem Kanapee eingenommen hatte.

“Haben Sie nichts zu lesen?” sagte sie.—Er hatte nichts.—”Da drin in meiner Schublade,” fing sie an, “liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu hören; aber seither hat sich’s nicht finden, nicht machen wollen.”

— Er lächelte, ging die Lieder zu holen, ein Schauer überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen standen ihm voll Tränen.

Hier endet der Ausschnitt von Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des Jungen Werthers]

Dann aber durch die Tränen bemerkte er, daß unter dem richtigen Titel die falschen Worte lagen. “Was geht hier vor”, flüsterte er mit erschwertem Atem, und sein Körper fing zu sacken an, als ob durchs Herz gestochen. Mit schwankenden Schritten setzte er sich nieder. “Was hast du getan, Lotte? Das letzte Mal, mein letztes Mal. Was hast du?” Aber immer noch fühlten sie beide das Glühen zwischen ihren Körpern und Gemütern. Ein Glühen, das menschliche Seelen zusammenwebt, um aus zwei Einzelnen ein Fleisch zu machen. Das Glühen der holden reinen unschuldigen Liebe, die in anderen Umständen ganz naturgemäß, anständig und schön ein Paar sich zu umarmen, küssen, liebkosen, und zu dem herzigen, tiefempfundenen, ganz aufrichtigen Versprechen der ewigen Treue führt. Wie Moses vorm brennenden Busch, brannte diese Erkenntnis ihnen in den Seelen. Aber auch spürten beide sehr deutlich die andere unausweichliche Eigenheit ihrer Lage. Werther zitterte und mit gesenktem Kopf schluchzte er leise vor sich hin.

“Lesen Sie es bitte, ich möchte wissen, was da drinsteht.” sagte Lotte mit sanfter, trauriger Stimme, indem sie ganz leise Werther an der Schulter anfasste. Ihre Berührung, so leicht und zierlich wie das Flattern von Schmetterlingsflügeln, durchquerte seinen Leib wie ein Blitzschlag und er bemerkte wie seine Schultern unwillkürlich sich aufrichteten. Ihre Hand, ihre Zuneigung, ihr Glauben war ihm das gewaltigste Heilmittel. Er las:

Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht und Schnee alle Fluren deckt: das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der heilige Abend, der darauffolgende Tag der heilige Tag und die dazwischenliegende Nacht die Weihnacht. Die katholische Kirche begeht den Christtag als den Tag der Geburt des Heilandes mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier; in den meisten Gegenden wird schon die Mitternachtstunde als die Geburtsstunde des Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille, finstere, winterliche Mitternachtluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen, beleuchteten Fenstern emporragt.

Mit dem Kirchenfeste ist auch ein häusliches verbunden. Es hat sich fast in allen christlichen Ländern verbreitet, daß man den Kindern die Ankunft des Christkindleins – auch eines Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war – als ein heiteres, glänzendes, feierliches Ding zeigt, das durch das ganze Leben fortwirkt und manchmal noch spät im Alter bei trüben, schwermütigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam als Rückblick in die einstige Zeit mit den bunten, schimmernden Fittigen durch den öden, traurigen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt. Man pflegt den Kindern die Geschenke zu geben, die das heilige Christkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu machen. Das tut man gewöhnlich am heiligen Abende, wenn die tiefe Dämmerung eingetreten ist. Man zündet Lichter, und meistens sehr viele an, die oft mit den kleinen Kerzlein auf den schönen, grünen Ästen eines Tannen- oder Fichtenbäumchens schweben, das mitten in der Stube steht. Die Kinder dürfen nicht eher kommen, als bis das Zeichen gegeben wird, daß der heilige Christ zugegen gewesen ist und die Geschenke, die er mitgebracht, hinterlassen hat. Dann geht die Tür auf, die Kleinen dürfen hinein, und bei dem herrlichen, schimmernden Lichterglanze sehen sie Dinge auf dem Baume hängen oder auf dem Tische herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrer Einbildungskraft weit übertreffen, die sie sich nicht anzurühren getrauen, und die sie endlich, wenn sie sie bekommen haben, den ganzen Abend in ihren Ärmchen herumgetragen und mit sich in das Bett nehmen. Wenn sie dann zuweilen in ihre Träume hinein die Glockentöne der Mitternacht hören, durch welche die Großen in die Kirche zur Andacht gerufen werden, dann mag es ihnen sein, als zögen jetzt die Englein durch den Himmel, oder als kehre der heilige Christ nach Hause, welcher nunmehr bei allen Kindern gewesen ist und jedem von ihnen ein herrliches Geschenk hinterbracht hat.

Wenn dann der folgende Tag, der Christtag, kommt, so ist er ihnen so feierlich, wenn sie früh morgens mit ihren schönsten Kleidern angetan in der warmen Stube stehen, wenn der Vater und die Mutter sich zum Kirchgange schmücken, wenn zu Mittag ein feierliches Mahl ist, ein besseres als in jedem Tage des ganzen Jahres, und wenn nachmittags oder gegen den Abend hin Freunde und Bekannte kommen, auf den Stühlen und Bänken herumsitzen, miteinander reden und behaglich durch die Fenster in die Wintergegend hinausschauen können, wo entweder die langsamen Flocken niederfallen, oder ein trübender Nebel um die Berge steht, oder die blutrote, kalte Sonne hinabsinkt. An verschiedenen Stellen der Stube, entweder auf einem Stühlchen oder auf der Bank oder auf dem Fensterbrettchen, liegen die zauberischen, nun aber schon bekannteren und vertrauteren Geschenke von gestern abend herum.

Hierauf vergeht der lange Winter, es kommt der Frühling und der unendlich dauernde Sommer – und wenn die Mutter wieder vom heiligen Christ erzählt, daß nun bald sein Festtag sein wird, und daß er auch diesmal herabkommen werde, ist es den Kindern, als sei seit seinem letzten Erscheinen eine ewige Zeit vergangen, und als liege die damalige Freude in einer weiten, nebelgrauen Ferne.

Weil dieses Fest solange nachhält, weil sein Abglanz so hoch in das Alter hinaufreicht, so stehen wir so gern dabei, wenn Kinder dasselbe begehen und sich darüber freuen. –

[Anmerkung der Redaktion: “Bergkristall” von Adalbert Stifter wurde erst (als “Der Heilige Abend”) 1845 herausgegeben. Die Geschichte erschien dann 1853 im Kurzgeschichtenband Bunte Steine. In unserer Geschichte, Victor und seine Freunden reisen vom Mary Shelley’s 1818 veröffentlichten Frankenstein nach JW von Goethe’s 1774 veröffentlichten und im 1772 gesetzten Die Leiden des Jungen Werthers. Woher also bekam Victor jenen Text von Adalbert Stifter (der in 1818 erst 13 Jahre alt war)? Die einzige logische Erklärung: Victor Frankensteins Fiktionportal konnte auch in noch nicht geschriebene Bücher reisen, und Victor hat auf irgendwelcher Weise und irgendwelchen Grund Stifters “Bergkristall” schon besucht.]

Werther lehnte sich zurück und sank ins Sofa ein. Er fühlte sich ganz ermüdet, aber das Gefühl war ihm etwas behaglich — wie ein Kind das eigentlich seit Stunden Todmüde war, das aber seine Müdigkeit nicht zugeben wollte und mit aller seinen abnehmenden Kräften dagegen kämpfte, das jetzt aber endlich sich der Erschöpfung hingibt und dabei eine überraschende Wonne entdeckt. Werther schlief ein. Lotte wollte ihre Arme um seinen Brust fassen, ihr Kopf in seinen Schoß legen, ihr Dasein ganz neben seine ruhige Atmung halten. Sie rief aber den Diener ihr zu.

“Werther ist nicht wohl. Nehmen Sie ihn bitte in Ihre Bettkammer. Ich entschuldige Ihnen sehr die Störung, aber ihm ist es nicht wohl und er muss sein Fieber ausruhen.”

Der alte Mann, der lange Lotte und ihre Familie bedient hatte, und der sehr wohl wusste inwiefern dem Werther nicht wohl und fieberhaft sei, nickte mit einem sanften gelassenen Lächeln ihren Bitten zu.

Am folgenden Tag gegen Zehn Uhr morgens kam Albert wieder nach Hause, währenddessen Werther immer noch schlief. Lotte erklärte ihren Mann den Zwischenfall — ohne auf die Einzelheiten zu sehr einzugehen. Dieser war darüber ziemlich verstimmt und saß still mit geknitterter Stirne am Tisch. Aber dann setzte Lotte ihm gegenüber, legte ihre Hand auf die seinige, blickte mit übergroßen liebenden schmerzenden Augen in seinen etwas zusammengekniffenen Augen und sagte sehr klar und besonnen, “Deine Liebe ist mir der allergrösste Segen meines Lebens. Ich weiß, daß es mit Werthern nicht so bleiben kann. Ich glaube, daß er das auch jetzt verstehen wird. Wenn nicht, müssen wir unsere Beziehung zu ihm überdenken. Aber wenn er jetzt aufwacht, bitte ein bisschen mehr Geduld und ihn willkommen heißen.” Ihre liebevolle Weise und sanften Wörter beruhigte Albert, und als seine Angst und Neid verflogen so ging auch den damit verbundenen Zorn und Ungeduld weg.

Erst um Elf Uhr erschien Werther, seine Haare gekämmt und Gesicht gewaschen, in der Stube. Da fand er Lotte allein am Kanapee bei der Handarbeit. Der Tag war klar und das weiche winterliche Licht fiel durchs Fenster aufs Mädchen. Werther stand vor ihr.
“Woher haben Sie den Lesestoff?”

“Sie würden mir nicht glauben, wenn ich es dir sagte. Am besten kann man es so verstehen: eine Fee legte ihn dort ab. Wie Sie vielleicht bemerkten, die Schrift ist weiblich, aber nicht die meinige.”

Werther zuckte die Achseln und warf eine Hand bis an die Hüften. “Wie dem auch sei, ich würde gern den albernen Aufsatz wieder lesen.” Lotte antwortete, daß er auf dem Tische liege, über sein Ossian. Er setzte sich am Tische und las in der Stille.

“Albern? Nein, nicht ganz. Die Bilder und die Argumentation knöpfen einander an, und stärken sich gegenseitig. Kitschig? Vielleicht einigen Gemütern bei der ersten Lesung, aber bald sickern die Wörter ein, verbreiten sich, und fangen an, auf der nichts ahnenden Seele zu wirken.

“Am Anfang übers Weihnachten: ‘das durch das ganze Leben fortwirkt und manchmal noch spät im Alter bei trüben, schwermütigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam als Rückblick in die einstige Zeit mit den bunten, schimmernden Fittigen durch den öden, traurigen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt. Man pflegt den Kindern die Geschenke zu geben, die das heilige Christkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu machen.’ Um, Lotte: Um ihnen Freude zu machen!

“Und am Ende: ‘Weil dieses Fest solange nachhält, weil sein Abglanz so hoch in das Alter hinaufreicht, so stehen wir so gern dabei, wenn Kinder dasselbe begehen und sich darüber freuen. –’

“Lotte! Steht es nicht geschrieben, ‘Es wäre ihm besser, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihm ins Meer, denn daß er dieser Kleinen einen ärgert. ’?! Das friedliche Fortschreiten der lokalen Bräuche und des Lebens selbst schulden wir den Kindern. Weh dem Menschen der die wohlige Einfachheit und Einförmigkeit der Kinderwelten stört! Weh denjenigen, die ihnen die schimmernde Fittigen stiehlt!

“Lotte! Ich sah Empfindlichkeit und Heftigkeit als Beweis der Reinheit meines Herzens, aber der einzige Beweis eines reinen Herzens liegt in jenem Herzen selbst. An sich ist Leidenschaft wenig wert; die Brauchbarkeit der Leidenschaft besteht — wie bei allen menschlichen Eigenschaften — nur darin, liebevoll zu denken, fühlen, und handeln. Im Rausch der Leidenschaft kann man leicht sich täuschen, daß man eine besondere Einsicht und hervorragende Schönheit erreicht und sich über den allgemeinen Zustand der Menschheit erhoben hat. Letztendlich aber verliert man seinen gezierten, selbstbetrügerischen Wahn und schwankt wieder in die Leere.

“Ich habe immer die Leere beschuldigt; aber die Leere ist nicht leer, nur stille, und sie lügt man nicht an, schmeichelt einem nicht. Der Leere fehlt fester Gegenstand und lesbare Antwort. So fühlt man sich unsicher und flieht man wieder in den Trost der Passion; so schadet man wieder der Weltseelen. Ja Lotte, die Leere ist ganz still, und wenn wir auch uns still halten, nehmen wir wahr, daß bunten schimmernden Fittigen sie überströmt.

“Ich liebe dich, Lotte, und niemand kann dich ersetzten. Wir sehen uns am Heiligen Abend, dann reise ich ab. Weihnachten ist da um die Kinder Freude zu machen, um ihnen unter der Verzauberung der Vertraute ganz sanft und leise in die Leere zu tauchen, worin sie ihre Fittigen finden sollen, worauf sie durchs Leben — egal wie kalt und stürmisch die Nächte — fliegen werden. Adieu, Lotte — noch einmal sehen wir uns bald wieder!”
Mit diesen heftigen Worten eilte er davon.

It is always a pleasant diversion for me to stroll down the corridor of Die Leiden des Jungen Werthers. With Victor or alone, I walk quickly to the end, where the passageway splits into a short and terrible one and a long, beautiful one. I take always the happier path to see my Werther and his Fräulein von B. Yes! He writes to her, the young woman he’d met in Weimar. He writes to her and soon they begin a world together.

I watch them live well and think of that day when Lee, Vuh, Henry, Justine, Victor and I visited Walheim. And also of that day’s mustaches. You see, upon our return to our scientifically seancing bodies, we discovered that Victor’s father and brothers had protected us from all dangers except themselves: the youngest thought it a lark to draw silly mustaches on all our faces, decorating my cheeks with two giant spirals of black ink; and our other two guards — well, I guess they found it funny too!

. . . .

Bartleby Willard & Amble Whistletown would like to thank
Markus Jais
for his corrections of our German.
Any remaining errors are our fault: we just keep tinkering and tinkering.

Author: Bartleby Willard
Editor: Amble Whistletown, with Markus Jais
Copyright: Andrew M. Watson

[Fixing Frankenstein chapters]

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