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Short Story Game #2: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke – Part C: Response Story (No Part B today)

Short Story Game #2: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke – Part C: Response Story (No Part B today)

Der Heimkehr des Cornets Christoph Rilke

»… den 24. November 1663 wurde Otto von Rilke / auf Langenau / Gränitz und Ziegra / zu Linda mit seines in Ungarn gefallenen Bruders Christoph hinterlassenem Anteile am Gute Linda beliehen; doch mußte er einen Revers ausstellen / nach welchem die Lehensreichung null und nichtig sein sollte / im Falle sein Bruder Christoph (der nach beigebrachtem Totenschein als Cornet in der Kompagnie des Freiherrn von Pirovano des kaiserl. österr. Heysterschen Regiments zu Roß …. verstorben war) zurückkehrt …«
I.
Schreiten, schreiten, nervös auf und ab.
Graf Jakob von Langenau, erst vierzig Jahre alt, seit 2010 Geschichtsprofessor an die Universität Heidelberg, in seiner weitläufigen Wohnung voller Hartholz und Bücher auf und ab schreitend, überlegt die allerwichtigste Frage seiner Forschung, die für ihn einzige Frage: wie kann man gerecht den Bedarf von jedermann decken, ohne irgendjemand zu schaden. Gewiss ist diese Frage ihm vorwiegend aus dem relativen Luxus seines Lebens gewachst, aber die Frage geht weit über ihn und seine moralische und soziale Ungetümlichkeiten hinaus. Sie ist doch die Frage nach dem echten Fortschritt. Nur wenn wir die Gerechten der Besitzer sowohl die Gerechten der Nicht-Besitzer schützen–nur dann können wir alle zusammen friedlich voran gehen. Jakob will einfach wissen, wie die Menschen die Unterdrückung sowohl das Chaos vermeiden kann. Welche andere wesentliche politische Frage gäbe es?
Schreiten, schreiten, schreiten.

Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Der Neckar glänzt schwarz. Stadtseite ist seine Dunkelheit von weiss-gelben Lichtstreifen mit gezackten Kanten unterbrochen. Dann aber kräuselt er sich wieder purschwarzkalt heraus. Im Winter fangen die Nächte um halb fünf an. Was soll ein Mann? Wir Männer wollen doch etwas sich lohnendes schaffen und dazu irgendwie anständig leben, spüren aber ständig den Druck der Geschlechtigkeit, als ob man nur auf der Erde wäre, um schöne Frauen zu explodieren. Das darf nicht wahr sein–oder? Ganz bestimmt nicht. Aber das Austausch von Leidenschaften zwischen Männern und Frauen ist auch sicherlich nicht bedeutungslos. Das Problem ist, dass sobald man ihre Wichtigkeit zugibt, erlaubt man die Sexualität und seine Liebesdränge ein Platz am Tisch, der sie unweigerlich verwenden, mittels unheimlich überzeugender Gefühle zu behaupten, dass sie doch die allerwichtigsten seien. Also zum Schein muss man zwischen zwei perverse Übertreibungen wählen: die unehrliche Übernüchternheit der totalgeistigen Abstinenz und den unehrlichen Rausch des Befriedigungsbemühens. Was ist überhaupt wahr heutzutage? Besonders wenn man ein immer noch ziemlich jung und gutaussehender Professor, umgegeben von netten, intelligenten, bluthübschen jungen Frauen ist. Welche Realität könnte so einem gehören? Welcher Kompromiss wäre seiner Leidenschaft und seiner Gelassenheit gemäß? Vielleicht ob er wieder zur Kirche ginge. Naja, heute haben wir Donnerstag; der Gottesdienst feiert man prinzipiell Sonntage …
Der von Langenau richtet sich auf, macht halt vor einem Neckarüberblickenden Fenster, und sagt: »Fräulein …«

Seine Nachbarin die Alte Brücke hüpft in sechs schlichte, saubere Bogen über den breiten stillen Neckar. Schon neun Mal und in ihrem jetzigen Gestalt seit 1788 spannt sie diese Stelle zwischen der mittelalterlichen weißgewandigten rotgedachten Altstadt und einem begrünten Wohnabhang. Jetzt weiß sie nichts mehr. Sie ist wie ein Kind, das schlafen möchte. Schwarze Nacht bleibt auf ihrem feinen roten Sandstein liegen; sie merkt es nicht. Sie wird langsam welk in kalter, klarer, aber doch undurchsichtiger Winternachtluft.

Aber der von Langenau lächelt und sagt: »Du machst keinen Fehler, Fräulein Alte Brücke. Du beharrst in deiner Stelle: Man muss sich Sisyphos glücklich vorstellen«

Da blüht die alte Jungfrau noch einmal auf und zittert im schwarzen Wasser und ist wie neu.
Jemand klopft an die Tür. Ein Amerikaner offenbar. Laut und wichtigrhytmus-schnell setzt er seine Faust. »Was soll das? Wer darf das sein? Und wie ist er hier nach oben angekommen? Keiner hat geklingelt. Spätabend. Ein bisschen unerhört, oder? …« murmelt Jakob von Langenau als er, (schon drei meter entfernt) die rechte Hand sich gegen die Türknauf streckend, sich die Tür nähert.
Ins Guckloch ist alles klein und konvex.
Frauen sind aber immer besser. Es ist immer besser, eine Frau vor deiner Tür zu finden.

Da zieht die schöne, formschöne Frau mit großen dunklen Augen die Kapuze ihres grauen Sweatshirts ab. Seine dunklen Haare sind weich und, wie sie das Haupt senkt und sich nach die Schnürsenkel eines roten Canvasturnschuhs bückt, dehnen sie sich sanft-zauberhaft auf ihrem Nacken–fluid, wie Sandkörner durch gedehnte Finger.
Jetzt erkennt auch der von Langenau: Fern ragt etwas in der Blendung einer Außenkante des gewölbten Prismas, etwas schlankes, dunkles. Eine einsame Säule, halbverfallen. Und wie die Nacht vorüber, später, fällt ihm ein, daß das eine Madonna war. Der von Langenau ist aber nicht abergläubisch, kann also nichts daraus schließen, kann in solchen Fällen nur bis auf die ewigen Himmel staunen–ohne eine Schlussfolgerung zu ziehen: ein schwieriges, schwermütiges existentielles Heroismus! Man muss dazu geschaffen sein.
II.

Runder Eichentish unter vier hellen weißen Glühlampen im Windradarrangement von einem mehrfarbrigen Buntglasshirm eingekreist. (Auf der einen Seite, eine hoch moderne dunkelholz, weißmarmor, edelstahl Küche; auf der nächsten, ein klassisches oft antikes dunkelholz rotsamt, Wohnzimmer–ein großer Schritt von der Küche gesunken, mit vier neckarzugewandten Stahlgittterfenstern, einer Bücherregalwand, und, an einer Ziegelmauer hängend, einem Paar Porträts wichtiger von Langenaus aus der achtzehnten Jahrhundert). Man sitzt rundumher und wartet. Wartet, daß einer spricht. Aber man ist unsicher. Das warme weiße Licht umhüllt. Es macht ein Reichsapfel worin die zwei Fremde–auf 1880s dunkeleichen Stühlen mit kunstvoll geschnittenen thronartigen (bedeckt mit drei Turmspitzen, usw) Lehnen und Gittersitzflächen aus dunkelblondem Korbgeflecht sitzend–sich über den Tisch anstarren, wegsehen, wieder einander ansehen und in verfremdeten Grinsen zucken. Plötzlich aber leuchten–mit eigenem, seelegeborenen Licht–eine Weile die schwarzen Augen der mittelgroßen Asiastischamerikanerin mit tropfenformigem Gesicht, zartem Schmollmund, breiten athletischen Schultern, und vollen Brüsten. »Es werde Licht!« dachte der von Langenau. Und, sein Geist Brust Bauch Eingeweide Geschlecht in wunderschön-vagen, traumhaften Gefühlen schwimmend, sprach er leise und konzentriert-betont:
»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.«
Sie lächelt ihn an als er befangen und schildkrötisch seine Lippen nach innen rollt und langsam sein Mund schließt, sein Blick und Kopf dazu ein bisschen sinken. Er ist groß, schlank–ein schlaksiges Rechteck. Kurze blonde nach oben und hinten gebürsteten Haaren. Hellblaue Augen, Habsichtsnase, ein langer robuste Kiefer. Der Anfang von Runzelbildungen um seine Augen und Mundwinkel. Dreißigerjahre? Frühe Vierziger? Seine dicke, schaufelartige Hände setzt er zuerst auf den Tisch, dann auf den Schoss, dann wieder auf den Tisch. Seine Stimme ist tief wie aus einer Höhle, aber im Hintergrund zittert sie–oder irre ich mich? Seine Interesse ist peinlich offensichtlich–sie blutet aus ihm, wie ein Kind oder Hund. Weißt er wie das Gedicht weiter geht? Weißt er überhaupt wie viele Elegies es gibt? Wollte er, bevor Verlegenheit ihn einholt, mich damit beeindrucken, oder mich eher damit berühren, indem er indirekt mir sagt, dass ich ihn berühre? Und lautlos ruft sie den nächsten Schritt zusammen ins Gedächtnis:
Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum

uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
Der von Langenau hat es gesehen–ihres sanfte, schonende, behutsame Lächeln. Er denkt: ich habe keine Rose, keine; ich habe keine Worte–muss sie stehlen; ich habe keine Ahnung–muss irgendeine eine Ahnung mimen. Oder doch vielleicht einfach hier bebend sitzen. Ja. Ich soll verlieren, also sitze ich hier, verliere, und dadurch die Gerechtigkeit betreuen. Aber hätte ich eine Rose, schenkte ich ihr sowieso–auch wenn ich verlieren soll, muss, und pflichtgemäß werde.

Dann öffnet er den Mund einen Augenblick um die Lippen dazu vorbereiten, noch enger zusammen zu drücken, sodass im nächsten Augenblick das Maul gerade oben und unten der Lippen sich bauscht. Die Augen öffnen weit; die Stirn runzelt tief. Und die ist eine alte traurige Verwirrung, die seit fast vierzig Jahren durch ihn spielt und in seinen Gesichtsausdrücken, Gebärden, Wortwahlen und Handlungen heimlich und oft pervers erscheint.
Nimm dich doch zusammen, Junge! Verliere, wenn du verlieren mußt, freundlich!

Sagt der von Langenau: »Sie sind also Studentin?«

Und Susan Lang: »Postgrad.« Dann schweigen sie eine kurze tiefe Weile.
Später fragt der von Langenau: »Also, Sie wollten mir etwas wichtiges sagen?«

»Ja« gibt die aus Wichita zurück. »Eine seltsame Geschichte. Ich hoffe, daß Sie sie glauben werden, und daß sie wahr ist.«

Und sie schweigen wieder, bis der Deutsche ruft: »Aber zum Teufel, wie seltsam kann sie doch sein! Heraus damit!« Er wollte damit herzhaft-lustig wirken, fühlt sich aber dann verlegen und schuldig wie beim mißerfolgten Versuch den Klassenkasper zu spielen, und–die Handgelenke auf dem Tisch und die Hände angehoben als ob sie Scheinwerfer hielten–neigt er sich den Kopf, schließt die Augen und öffnet den Mund in einer frustrierten Fratzen. Er will sich aufsammeln und was vernünftiges sagen, aber ihr Lachen unterbricht seine Gewissensprüfung.

Susan lächelt. »Also meine seltsame Geschichte! Aber zuerst, verstehen Sie bitte mein Zögern: meine Familie hat vier hundert Jahren gewartet, deine Familie diese Geschichte zu erzählen.«
Was für eine nette Frau! Sie lauert um die Schiffsseite, etliche Rettungsringen um beide Arme. Sie nutzt er Leben um die armen, von schwarzen Sturmwellen geprügelten Ertrinkender zu retten. Sie, der Gottheit gleich, verbietet es, daß auch nur eine einzige Menschenseele verloren geht. Was für eine nette Frau!
Der von Langenau blickt ermuntert auf: »Vier hundert Jahren?! Also soll ich Sie nicht hetzen!« Und sein Humor wird warm und kichernausstrahlend.
Sie neigt sich den Kopf ein bisschen zur Seite. Ihr Lächeln wird ganz dünn; ihre Augen spähend.

Und auf einmal wachst durch seine dankbare Freude eine sanfte bereuende Schwermut. Er denkt an ein blondes Mädchen, mit dem er studierte. Wilde Ideen, große Hoffnungen, alles und immer zu weit gehend. Er möchte nach 2000, für einen Augenblick nur, nur für so lange, als es braucht, um die Worte zu sagen: »Jakob von Langenau: hör jetzt auf! Ich verspreche dir, daß es Zeit ist, damit aufzuhören. Und anzufangen, dich zu fragen, warum … –ach, nein. Das ginge nicht. Ich weiß nicht wie ich dir raten soll. Es tut mir Leid. Aber hör jetzt bitte auf!« Und er sinkt seine Augen in ihren mit dem herzlichsten Wunsch, drin akzeptiert zu sein.

Sie können nicht voneinander. Sie sind Freunde auf einmal. Haben einander mehr zu vertrauen; denn sie wissen schon so viel Einer vom Andern. Sie zögern. Und ist Kunstlicht und Dampfhitze um sie. Da blinkt Miss Lang und richtet sich breitschultrig auf und das kleinste Stückchen zurück. Sie teilt die Lippen mit ihrer Zunge, so daß für einen Demi-augenblick sie drei Lippen hat–oder als ob sie feierlich eine Hostie im Mund hält.
Dann fängt sie zu sprechen an, und der von Langenau sieht nichts, hört nichts, ist irgendwie nur ihrer Wörtern, ihrer Geschichte bewußt.

III. Ihre Geschichte

Den 23 November 1663 langte Christoph von Langenau, erst achtzehn und seit mehr als einen Monat unterwegs, im Schloss Sárkány, auf der ungarischen Seite des Raabs, an, wo er sich die Kompagnie des Freiherrn von Pirovano anschloß. Aufgrund seines Adelsstandes und eines vom örtlichen Fürsten verfassenen Empfehlungsschreiben, gewährte man ihm die Ehre, als Fahnenträger des kaiserlichen österreichischen Heysterschen Regiments zu Roß gegen den Osmanisches Reich in den Krieg zu ziehen.

Er hat die letzten drei Tagen allein gereitet. Mit jedem Stoß des kanternden Pferd fühlte er das Gewicht seines Brustpanzers und das Streicheln des kratzigen wolligen Waffenrocks. Dabei bedachte er ein rotes Rosenblatt, ihm von seinem Reisegefährtens der Marquis D’Andelot geschenkt, das zwischen Waffenrock und Fleisch sein junges Herz kribbelt. Am Tag zuvor hatte er den unheimlichsten Traum seines Lebens:

Er träumt.
Aber da schreit es ihn an.
Schreit, schreit,
zerreißt ihm den Traum.
Das ist keine Eule. Barmherzigkeit:
der einzige Baum
schreit ihn an:
Mann!
Und er schaut: es bäumt sich. Es bäumt sich ein Leib
den Baum entlang, und ein junges Weib,
blutig und bloß,
fällt ihn an: Mach mich los!

Und er springt hinab in das schwarze Grün
und durchhaut die heißen Stricke;
und er sieht ihre Blicke glühn
und ihre Zähne beißen.

Lacht sie?

Ihn graust.
Und er sitzt schon zu Roß
und jagt in die Nacht. Blutige Schnüre fest in der Faust.

Also war es kein Traum; also entdeckte er den Krieg.

Im Morgenlicht, die roten klebrigen Händen im Eiswasser eines kleinen Bachs gereinigt, schrieb Christoph von Langenau einen Brief, ganz in Gedanken. Langsam malt er mit großen, ernsten, aufrechten Lettern:

»Meine gute Mutter,
seid stolz: Ich trage die Fahne,
seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne,
habt mich lieb: Ich trage die Fahne –«

Dann steckte er den Brief zu sich in den Waffenrock, an die heimlichste Stelle, neben das Rosenblatt. Und er denkt: er wird bald duften davon. Und denkt: vielleicht findet ihn einmal Einer … Und denkt: ….; Denn der Feind ist nah.

Und so ging es weiter, auch wenn für ihn alles schon vorüber war. Er traf sich mit anderen, die der Heystersche Regiment gehören sollte. Andere freiwillige, wie er und der Marquis und die übrigen Reisegefährten—die aber alle für andere Regiments bestimmt waren, und von denen er deshalb sich vor drei Tagen getrennt hatte. Die Krieger kamen aus jedem Teil des Heiligen Römischen Reichs—das damals ganz Deutschland sowie Teile vom heutigen Frankreich, Holland, Polen, Tschechien, Österreich, Slowenien, und Italien umfasste—am Schloss Sárkány an.

Fünf Meilen vorm Burgtor ritten sie über einen erschlagenen Bauern. Er hatte die Augen weit offen und Etwas spiegelte sich drin; kein Himmel. Später heulten Hunde. Es kam also ein Dorf, endlich. Und über den Hütten stieg steinern ein Schloß.

Dann wird alles zum Rausch: Willkommen, ein Festmahl, ein Tanz, eine erste Liebe—die Gräfin, habe ihm ausgewählt—, beglückt eingeschlafen, zum Feuer und Rauch aufgewacht, Chaos, der Feind ist am Tor, jeder läuft im Schlafrock nach seiner Rüstung, die Fahne ist verbrennt und die Panzerung zu heiß zum Anfassen, er muss die Flammen entkommen, auf einmal ist die Gräfin wieder da, sie zieht ihn weg und er—der jetzt so unheimlich müde, einsam, und biegsam fühlte—folgt ihre schönen, vollen, in Seide bewegenden Hüpfen durch einen dunklen, nasskalten Fluchtstollen, und—während seine Kameraden und ihr Graf heroisch sterben und ihre Freundinnen zur Kriegsbeute wird—reiten sie gemeinsam, er vorn und sie an ihm festgeklebt, auf einem versteckten Ross.

Sie reiten, mit den Gulden des heroisch früh im Schlacht gefallenen Grafs in ihren Taschen bis an Ende der Welt, nach China, nach nirgendwo Kleindorf China, wo sie vier Kinder zusammen gebären und großziehen.

Ihre Kinder werden weiße Chinesen; die Kinder ihrer Kinder Halbblüter; schon in der dritten Generation kann man die Adelsfamilie aus Langenau von den übrigen Dorfbewohner nicht unterscheiden. Sie tragen aber immer noch ihr Geheimnis, ihren Geheimstolz: Sie sind Adelige: Ihnen gehört zwei Schlösser, etliche Acker samt Bauern, und auch das Blut Christi und die ewige Rettung—was auch immer die sind. Und der älteste Sohn der älteste Sohn: er trägt immer die Fahne—sobald sie wieder vorrätig sei. Aber sie haben nicht nur einen Geheimstolz: sie sind auch von der tiefsten Schande belastet: Überlasser, Verräter, Versager. Gewiss: die echte Liebe erklärt alles und rechtfertigt vieles, aber immerhin bleibt eine Ursünde die man immer wieder erzählen und zu wiedergutmachen versprechen muss.

So vergingen Jahrhunderte. Die Familie wurde ehrgeiziger, dann tatsächlich reicher, wichtiger, mächtiger. Aber das alles ist je gleichgültig. Irgendwann wird es zu eng, und die übrigen sind geflohen, wurden als Chineser die Vereinigten Staaten erreichen, schon wieder arm, aber immer noch sicher, dass sie Adel sei. Ihr Vater aber, der letzte Junge des Stammbaums, fand das alles so blöd, wollte frei sein, Amerikaner, Wissenschaftler, Geiger, Tanzer, Basketballfan.

“Wieso, also, Sie sind doch hier. Sie haben Deutsch gelernt, die Reise gemacht, hierher gekommen, meine Tür geklingelt in kalter Winternacht, bei der Stille des Neckars.”

“Stimmt. Habe ich. Wollte einfach mal schauen. Halloa sagen. Das Ende zu erreichen, auch wenn das Ziel ist jetzt woanders.”

“Wo genau? Das Ziel? Wo ist es jetzt?”

“Da drüben, im Fluss, wo die Lichter zerstreute wirbelnde Schneekugel wurden. Nein, nein! Das Ziel? Jetzt? Jetzt empfinde ich die glatten Strasssteinen, jetzt geniesse ich den Frieden, jetzt bemerke ich daß die Weisheit eine Pause im Verlauf der Geschichte grabt, und daß wir ganz ruhig und dankbar der Sonne atmen muß.”

“Ja klar. Alles klar.”

Author: BW
Editor: AMW

Guck Mal! Guck Mal!

Guck Mal! Guck Mal!

Wo ist mein Bleistift?
Ich moechte dir schreiben,
habe was dass ich mitteilen will,
etwas interessantes,
dass dir bestimmt
gefallen wird.

Wie geht’s?
Was??!!
Ich kann dich nicht hoeren.
Du musst lauter sprechen,
musst dich genauer aussprechen,
musst mich naeher betrachten,
meine haende fester druecken,
mir mehr Glauben schenken—

Tja.
Naja.

Die Kinder, die am Rande des Teiches stehen und mit den Augen–entlang der suessen Aermchen, die sie wie Gewehre ausgestreckt halten,–die weit ausgefahrten Zeigefinger folgen.
“Guck mal! Guck!”

Die Enten, die, flaumigie Koepfe hoch erhoben und lange graue-und-braune Federn wackeln waehrend die gruene reflekteriende Frontfedern im Sonnenlicht kichern, im stillen klaren Wasser herum paddeln.
Total Ahnungslos.

Da, durch die knochenweisse Pappel, kommt ein uebler Dampf.

Der Mammut

Der Mammut

Ich muss unbedingt weitergehen. Jetz aufzuhoeren waere eine Schande–eine unausstehliche Schande! Es gibt ja so viele schoene Moeglichkeiten wenn ich nur ein bisschen weiter gehe. Aber wenn ich hier Aufenthalt mache, habe ich nur ein bisschen altes trockenes Grass zu fressen; schlammiges, fragwuerdiges Wasser zu trinken; und spitze Steine als Bett. Nein, das darf nich passieren! Also: weiter!

Ich bin aber ein bisschen muede. Und auch gelangweiligt. Selbst die Vorstellung, die schoene Welt um die naechste Ecke zu erreichen und geniessen langweiligt mich. Also veilleicht einfach mich hier sitzen, nichts machen, einschlaffen, alles vergessen. Die schoene Moeglichkeiten koennten bestimmt noch einen Tag warten.

Also.